- November 2008
- 20:00
D-24105 Kiel
Lesung Jürgen Haese
Jürgen Haese liest aus seinem autobiografischen Roman "Verloren in Elblag"
Jürgen wächst in einem bürgerlichen Elternhaus auf, wohl behütet, ein Muttersöhnchen - wie man sagt -, das einzige Kind eines mittleren Beamten und seiner Ehefrau. Der Junge soll mal was besseres werden, hört er seine Mutter bei Familienfeiern gern sagen. Studium in Königsberg. Doktor will der Kleine werden. Im Januar 1945, Jürgen ist keine elf Jahre alt, erobert die Sowjetarmee Elbing. Innerhalb zweier Wochen verliert er seine Eltern, ist fast auf sich allein gestellt. Den Gefahren auf Leben und Tod ausgesetzt, lernt er von einem Tag auf den anderen, sich radikal-egoistisch durchzubeißen.
Die ersten Polen kommen. Zufällig begegnet er einem Lehrerehepaar, das sich seiner annimmt. Jürgen revanchiert sich durch artiges Wohlverhalten. Er heizt die Wohnung, schleppt Kartoffeln vom Markt und besorgt nachts für seinen Ziehvater die letzte Flasche Wodka. Er lernt gefällig zu sein; dafür darf er die polnische Schule besuchen. Er wächst in eine neue Ordnung hinein. Er will bleiben, nicht ausgesiedelt werden, nach all den Demütigungen nicht länger zu den Besiegten gehören. Er wird adoptiert und erhält die polnische Staatsangehörigkeit und heißt von jetzt an Jurek. Nun ist er kein Außenseiter mehr, anerkannt in der Schule, beim Polnischen Roten Kreuz, wo er sich engagiert einsetzt - und auf dem Fußballfeld, unersetzbar auf Rechtsaußen. Eines Tages, Anfang 1948, steht seine Mutter - zurück aus Sibirien - vor der Tür in Elbląg. Er sei Deutscher - und gehöre nicht nach Polen! Nach konfliktreichen Monaten muss er seine Welt, die er geliebt und in der er zu sich selbst gefunden hat, verlassen. Er fährt nach Deutschland, in eine fremde, ungewisse Zukunft.
Dem Autor gelingt es, die bewegenden, erschütternden Ereignisse einer frühen Jugend authentisch und lebendig zu schildern. Ohne sich im Anekdotischen zu verlieren, zeichnet er einen Jungen mit allen seinen Widersprüchen und Brüchen. Wir erleben ihn hoffnungslos verzweifelt und in Momenten des Glücks. Kein glatt gebügeltes Jugendschicksal. Jureks Unberechenbarkeit, mit der er sein Leben steuert, macht das Buch spannend bis zur letzten Zeile. Zweifellos helfen dem Autor seine eigenen Erfahrungen, diese Jugend in Elbing/Elbląg zu erzählen - unprätentiös, treffend und mitunter angenehm zurückhaltend, ja lakonisch. Nirgends die Larmoyanz des Betroffenen.
Der Leser spürt den in Jahrzehnten eingeübten journalistischen Zugriff des Autors auf die Ereignisse der Zeit, kurz und präzise, dennoch nicht lexikalisch, sondern engagiert und mit dem Mut zum unkonventionellen Urteil. So werden auch für die nachwachsenden Generationen drei Zeitabschnitte sinnlich erfahrbar, die für Millionen Deutsche schicksalbestimmend waren (Die deutsche Provinz unter der Herrschaft der Nationalsozialisten.Die zerstörerische Kraft eines Krieges, an dessen Ende das deutsche Bürgertum die Rache der siegreichen Sowjetarmee erleidet. Und schließlich die totale Entrechtung der verbliebenen Deutschen nach der Übernahme deutscher Städte und Provinzen durch Polen.).
Erinnert und erzählt werden Jureks frühe Jugendjahre aus der Sicht des 70-Jährigen. Noch einmal kehrt er im Alter in seine Stadt zurück, sucht nach Spuren dessen, was sich in seinem Gedächtnis als Erinnerungen eingebrannt hat, wohl wissend, welch unzuverlässiges Material Erinnerungen sind. Haese spricht davon, dass er nur „grob konturierte, unscharfe Gedächtnisbilder" zusammengetragen und zu diesem Buch verdichtet hat. Ein wohltuendes Geständnis über die geringe historische Relevanz alles subjektiv Erfahrenen und Erlebten - und das in einer Zeit, in der die ‚oral history' in höchsten Tönen gelobt wird. So schreibt er warnend schon auf einer der ersten Seiten seines Buches: „Vieles in Jureks Gedächtnisbild passt nicht zusammen, Zeiten purzeln durcheinander, Personen, Ereignisse, Wertungen... Wo ist Wahrheit, fragt er sich und: Welche Wahrheit sucht er? Jurek macht es sich einfach: ‚Ich fühle mich der Wahrheit des Autors verpflichtet."
Eintritt: 6,- / 3,-
In Zusammenarbeit mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Kiel e.V.